QUALITÄT ALS FORMENDE WIRKSAMKEITSZONE
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sabine zimmermann
QUALITÄT ALS FORMENDE WIRKSAMKEITSZONE
Ich begreife künstlerische Praxis als Forschung.
Meine zentrale Frage dabei lautet: Wie nimmt die Masse, die wir Welt nennen, in unserer Wahrnehmung Form an? Mich interessiert, wie Material-eigenschaften in Ausdruck übergehen und welche Spur dabei in unserer Wahrnehmung entsteht. In diesem lebendigen Prozeß sind wir mit der Welt verbunden. Wir nutzen in unserem Alltag zwar das kraftvolle Ineinandergreifen unserer Vermögen von Wahrnehmen, Denken und Fühlen, blenden aber im täglichen ergebnis- und zweckorientierten Handeln deren emergent wirksame Potenz weitgehend aus.
Im Umgang mit Kunst kann die schöpferische Wirksamkeit unserer Fähigkeit, Beziehungen quer durch die natürliche und soziokulturelle Umwelt hindurch herzustellen, wahrnehmbar werden.
‚Dass‘ wir unterscheiden ist unumgänglich – wir würden sonst den Weg nach Hause nicht finden. Die Frage ‚Wie‘ unterschieden werden kann, zeitigt Sichtbarkeiten, Denk- und Hörbarkeiten und vielleicht auch poetische oder zeitintensive Umwege.
‚Wie‘ in den beiden grundlegenden kognitiven und sensitiven Operationen von Trennen und Verbinden - Merkmale wie z. B. Dichte, Kontrast, Korrelation oder Opposition im Erkennen (von etwas als etwas) wirksam werden, kann im Leben vielleicht Freude schenken oder Gewissheit oder aber auch Misstrauen hervorrufen – jedenfalls nährt diese vitale Wirksamkeitszone Kunst und Poesie.
Mit Kunst zu leben, kann die grundlegende Beweglichkeit von bestehenden gewohnten Aufteilungen und Ordnungen und damit verbundene Wirkungszusammenhänge im Ineinandergreifen von Wahrnehmen, Denken und Fühlen spürbar machen. Was wir üblicherweise als fest und gegeben betrachten, kann sich im Zusammenhang von Kunst, als veränderliches Produkt einer jederzeit relativen Weltauffassung und Wahrnehmungsweise herausstellen.
In diesem Zusammenhang zeigt sich, aus meiner Sicht, eine scharfe Trennung von Form und Inhalt sowohl als auch eine klare Trennung von Theorie und Praxis wenig hilfreich – sie kann die mit Kunst und Gestaltung verbundenen Wahrnehmungs-Prozesse und Tätigkeiten nur unzureichend phänomenologisch reflektieren.
‚Qualität als formende Wirksamkeitszone‘ basiert auf fünf Aspekten:
1
Nichts existiert für sich allein: Kein Einzelnes, keine Singularität kann isoliert erscheinen. Das Einzelne ist nicht für sich erscheinungsfähig. Es kann nur auftreten, indem ihm ein Ort oder ein anderer tragender Grund eingeräumt wird, über den es als Einzelnes per definitionem nicht selbst verfügt.
2
Wir alle sind in den zwei elementaren kognitiven und sensitiven Operationen von ‚Trennen‘ und ‚Verbinden‘ korrelierende Teilnehmer*innen auf Basis unserer jeweiligen persönlichen körperlichen, geistigen und seelischen Voraussetzungen.
3
Kunst und Gestaltung erforschen die kraftvollen Wirksamkeiten der zwei elementaren kognitiven und sensitiven Operationen von ‚Trennen‘ und ‚Verbinden‘. Im Aufteilen und Ordnen von Dingen, Aktionsorten, Körperbewegungen oder anderen Materialien können Handlungsmuster und Wahrnehmungserwartungen bedient oder unterbrochen werden. In der Unterbrechung kann sich zeigen was die Operationen von Trennen und Verbinden bewirken und wie sie wirksam werden. Kunst schafft dabei in der Art und Weise ihres Aufteilens und Ordnens eine sinnliche und reflexive Distanz zur Funktionalisierbarkeit ihrer möglichen Botschaften.
4
Worauf wir im Zuge unserer Alltagsroutinen wahrnehmungsvergessen vertrauen und was wir zweckorientiert ignorieren, bildet im Rahmen künstlerischer Praxis nicht einfach nur den Brennstoff im Hinblick auf das Erkennen und Interpretieren einer bestimmten Gegebenheit. Vielmehr wird im Zusammenhang von Kunst, Gestaltung und Philosophie spürbar und reflektierbar, daß Wahrnehmen, Denken und Fühlen beständig lebendig ineinander greifen. Dieses emergente Mischverhalten zeigt sich wirksam im Hinblick auf das, ‚was‘ uns erscheint und ‚wie‘ es uns erscheint. Es zeigt sich, dass solche Prozesse zwar schlecht kontrollierbar sind, daß sie jedoch reflexiv und selbst-reflexiv wirksam sein können und auf diese Weise Wirksamkeitszonen und Möglichkeitsräume deutlich werden lassen.
5
Jedes beständige Risiko einer Möglichkeit zum Guten wie zum Schlechten führt eine Fragwürdigkeit mit sich, die sich nicht bloß mit der geistigen Reproduktion von bestehenden Verhältnissen zufrieden gibt. Wir sind das formende Milieu.
institutfuergeistigeabnutzung.eu
Frankfurt, Oktober 2021
A CONCEPT OF QUALITY AS EFFICACY-ZONE
I understand artistic practice as research.
My central question is: How does the mass we call ‘world’ take shape in our perception? I am interested in how material properties are transformed into expression and which traces thereby arise in our perception. In this lively process we are connected with the world. In our everyday life we use the powerful intertwining of our capacities to perceive, to think and to feel—but in the daily resultand purpose-oriented actions, we largely ignore their
emergent potency.
In living with art, the creative efficacy of our ability to establish relationships across the natural and sociocultural environment can become perceivable.
‘That' we distinguish is inevitable - otherwise we would not find our way home. The question of 'how' to distinguish produces visibilities, thinkabilities, audibilities and also poetic or maybe even annoying time-consuming detours.
How in the two basic cognitive and sensitive operations of ‘separating’ and ‘connecting’ - features like f. e. density, contrast, correlation or opposition in the recognition of something as something, can bring joy or certainty or also can arise mistrust - in any case, this vital zone of efficacy nourishes art and poetry.
Art can emerge the fundamental mutability of customary divisions and orders and the associated interrelationships of effects in the interlocking of perceiving, thinking and feeling. What we usually regard as fixed and given, in the context of art, can turn out to be a changeable product of a world view and a mode of perception, that is of course always relative.
In this context, in my view, a sharp separation of form and content as well as a clear separation of theory and practice shows itself to be unhelpful—it can only insufficiently reflect the perceptual processes and activities associated
with art and design.
'Quality as a shaping efficacy zone' is based on five aspects:
1
Nothing exists on its own: no single thing, no singularity can appear in isolation. The individual is not capable of appearing for itself. It can only appear by being granted a place or another supporting ground, which it, as a singularity, by definition does not have itself.
2
We are all correlating participants in the two elementary cognitive and sensitive operations of 'separating' and 'connecting' based on our respective personal physical, mental and spiritual conditions.
3
Art and design explore the powerful efficacies of the two elementary cognitive and sensitive operations of 'separating' and 'connecting'. In dividing and ordering things, places of action, body movements or other materials, patterns of action and perceptual expectations can be served or interrupted. The interruption can reveal what the operations of separating and connecting achieve and how they become effective. Art—in the way it divides and orders—creates a sensual and reflexive distance from the functionalisability of its possible messages.
4
What we rely on in the course of our everyday routines and what we ignore, oblivious to perception, for the sake of purpose, does not simply constitute the fuel in the context of artistic practice with regard to the recognition and interpretation of a given matter. In the context of art, design and philosophy, it rather becomes perceivable and reflectable that perception, thinking and feeling are constantly intertwining lively. This mixing-behaviour shows itself to be emergent in terms of 'what' appears to us and 'how' it appears to us. It turns out, that although such processes are poorly controllable, they can create reflexive zones of intertwining-efficacies and possibility-spaces.
5
Every constant risk of a possibility for the good or the bad carries with it a questionability that is not merely satisfied with the intellectual reproduction of existing conditions. We are the formative milieu.
institutfuergeistigeabnutzung.eu
Frankfurt, October 2021
sz wurde in österreich geboren, studierte malerei an der städelschule frankfurt in der klasse per kirkeby, arbeitete als künstlerisch-wissenschaftliche assistenz von nicolaus ott und bernard stein an der kunsthochschule kassel am fachbereich visuelle kommunikation, gestaltete so manchen vorspann und trailer für zdf und arte, arbeitete als juniorprofessorin an der haw-hamburg, promovierte in philosophie an der technischen universität darmstadt bei prof. dr. gerhard gamm, beteiligt sich an kunstausstellungen und lehrt seit 2003 am fachbereich gestaltung mathildenhöhe der hochschule darmstadt.