Polyfonische Gefüge
Der Frankfurter World Industrial Design Day 2024
Der World Industrial Design Day (WIDD) ist ein offenes Format der World Design Organisation (WDO), das seit 2008 »designorientierte Veranstaltungen, Aktivitäten, Workshops, Wettbewerbe und Ausstellungen«[1] ideell unterstützt. Die Frankfurter Interpretation des WIDD findet seit 2019 statt; dieses Jahr im Museum Angewandte Kunst, auf Einladung von Denzinger Design und dem Deutschen Werkbund Hessen in Kooperation mit der World Design Capital 2026 (WDC 2026) – ebenfalls ein WDO-Format. Es ist mittlerweile eine gute Tradition der Frankfurter WIDD-Ausgabe, die Disziplin weit zu fassen, keine Nabelschau zu betreiben, sondern die Fühler auszustrecken, sich (auch) von Vertreter*innen anderen Wissens und Könnens auf neue Gedanken bringen zu lassen. Mit einer Einführung von Jochen Denzinger und fünf Impulsvorträgen wurde den rund 100 Gästen unter dem Titel Shifting Paradigms? Gestaltung in Bewegung. denn auch ein inspirierender Abend beschert.
Die Ruinen des Kapitalismus
Der Darmstädter Ökonom Ulrich Klüh erweiterte gleich im ersten Impuls (Mushroom Paradigms. Design in den Ruinen des Kapitalismus) den Horizont und machte klar, wie sinnvoll es ist, über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinauszuschauen. Nicht nur, dass er daran erinnerte, dass sich das Design bereits außerhalb des kapitalistischen Systems bewiesen habe, er verwies damit gleichzeitig auch auf eine damit verbundene Chance. Das Design, so Klüh, funktioniere ohne liberales Fortschrittsdenken und sei damit auch für das postkapitalistische Wirtschaften gewappnet.
Angesichts der ökologischen Probleme, die – das erschloss sich den Anwesenden schnell anhand einer einzigen Grafik – nichts anderes als Verteilungsprobleme sind, sei nämlich der Kapitalismus die Dystopie und nicht dessen sowieso spärlich vorhandene Antagonismen, etwa in Gestalt einer verantwortungsvollen Klimapolitik. Der Titel von Klühs Vortrag bezieht sich im Übrigen auf Anna Lowenhaupt Tsings Publikation Der Pilz am Ende der Welt – Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus. Ein bemerkenswertes Buch, in dem die Autorin von den weltweiten Spuren des Matsutake-Pilzes erzählt, eines Vertreters der »dritten Natur«, die nach Tsing »all das bezeichnet, was trotz der Verheerungen des Kapitalismus am Leben zu bleiben vermag«[2].
Menschliches und mehr als Menschliches
Wie dieses Vermögen, am Leben zu bleiben, von uns Menschen unterstützt und vorangetrieben werden kann, war Thema der beiden folgenden Keynotes.
Zunächst stellte die Designerin Nicola Stattmann das Stadtbegrünungsbüro OMC°C (Office for Micro Climate Cultivation)[3] vor, das sie gemeinsam mit Carlotta Ludig 2020 gegründet hat. In Kooperation mit einem transdisziplinären Expert*innen-Team aus Architektur und Stadtplanung, Design, Biologischem Gartenbau, Statik, Textiltechnik und Fertigung haben sie innerhalb kürzester Zeit ein vertikales Begrünungssystem geplant und umgesetzt, auf ökologisch, ökonomisch und sozial gesunder, sprich nachhaltiger Grundlage. Es scheint, also könne das Design entscheidend dabei helfen, das viel beschworene »Deutschlandtempo«[4] aufzunehmen.
Im Anschluss berichtete Sarah Dorkenwald, Designerin auch sie, von unterschiedlichen Projekten, in denen sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Karianne Fogelberg neue Diskursarten und Ausstellungsformen entwickelt. Ob spekulative Dinner Performance (Superfood der Dürre)[5] oder Partizipativer Artenparcours (Neuperlach der Tiere)[6], hier wurde schnell deutlich, wie ein gestaltendes Handeln jenseits des von Ulrich Klüh angesprochenen »liberalen Fortschrittsdenkens« in der Praxis aussehen könnte.
Die Zeit des Autorendesigns sei angesichts der anstehenden Aufgaben nun endgültig vorüber, hatte Nicola Stattmann am Ende ihres Beitrags konstatiert. Wohin die Reise stattdessen gehen muss, zeigte Sarah Dorkenwald anhand ihrer Projekte sehr deutlich auf: Co-Creation-Prozesse, More Than Human-Ansätze und Partizipationsformate, die den Namen auch verdienen.
Polyfonie
Nach einer kurzen Pause empfing der Musiker, Komponist und Stadtplanungstheoretiker Christoper Dell das Publikum mit einer fulminanten Darbietung auf dem Vibraphon. In seinem sich anschließenden rhetorischen Beitrag schlug er einen Bogen, der von einer einordnenden Kurzzusammenfassung des bisher Gehörten bis zu seinem Vortrag zur urbanen Architektur reichte. Unter dem Titel Improvisation und Raum – Der konstruktive Umgang mit Unbestimmtheit betonte Dell unter anderem die Bedeutung der Recherche als Basis eines nachhaltigen Innehaltens (»Wenn ich recherchiert habe, muss ich gar nicht mehr so viel machen.«). Dabei bezog sich Dell überwiegend auf Beispiele des u.a. mit dem Pritzker Preis ausgezeichneten Architekturbüros Lacaton Vassall, das sich durch die verantwortliche Sanierung im Bestand einen Namen gemacht hat.[7]
Dell verwies – und das konnte durchaus als Rahmung des gesamten Abends verstanden werden – auf den Begriff des »polyfonischen Gefüges«, eine musikalische Metapher, die auch bei Anna Lowenhaupt Tsing Erwähnung finde[8].
Dass er mit seinen musikalischen Ein- und Ausleitungen auch gleich für das adäquate Hörerlebnis sorgte, gehört sicher zu den nachhallenden Höhepunkten des Abends.
Die Dinge fügen sich
Den fünften Impuls setzte Anna Scheuermann, Co-Programmverantwortliche der WDC 2026. Sie hatte zuvor schon, gemeinsam mit Jochen Denzinger, durch den Abend geführt. Scheuermann stellte das Konzept der WDC 2026 und dessen Herleitung vor, was sich in aller Kürze so liest:
Das WDC 2026 Team hat in seinen bisher unterschiedlichen Zusammensetzungen ein relevantes Thema und einen griffigen Titel gefunden (Design for Democracy – Atmospheres for a better life), eine erfolgreiche Bewerbung abgegeben, eine valide Struktur entwickelt, zehn Handlungsfelder vorgeschlagen und das Ganze mit einem Angebots-/Aufforderungscharakter an uns alle versehen (»Jetzt seid Ihr dran!«).
Wir alle sollten nun diese Einladung ernst und annehmen. Lasst uns also von hier an übernehmen, lasst uns – oder ein Teil von uns – nach diesem WIDD-Abend die Unordentliche Gegend[9] aufsuchen, samt und sonders der Orte, Momente und Situationen, an denen der windschiefe Kapitalismus[10] das Interesse verloren hat. Lasst uns recherchieren und begreifen, was ist – lasst uns ein polyfonisches Gefüge bilden!
Eine persönliche Anfügung sei zum Schluss noch erlaubt: Liebes WDC 2026-Team, stellt das Bewerbungsvideo für die WDO doch bitte ins Projektarchiv. Der Frankfurt/Rhein Main-Blase müsst Ihr nicht vorführen, wer sie sei und wo sie lebe – im Zweifel erkennt sie sich und ihre Region darin sowieso nicht wieder.
Fußnoten
- https://wdo.org/programmes/widd/
- Anna Lowenhaupt Tsing, Der Pilz am Ende der Welt – Über das Leben in den Ruinen des Kapitalismus, Berlin, 2018.
- https://omc-c.com/
- https://www.bundesregierung.de/breg-de/schwerpunkte/klimaschutz/planungs-undgenehmigungsbeschleunigung
- https://undesignunit.com/spekulative-dinner-performance-superfood-der-duerre/
- https://undesignunit.com/neuperlach-der-tiere-partizipativer-artenparcours-mit-zukunftsforum/
- »Ihr allererster gemeinsamer Auftrag war 1996 die Umgestaltung des Place Leon Aucoc in Bordeaux. Bei ihrem Besuch vor Ort waren Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal von dem mit Bäumen umsäumten, dreiecksförmigen Platz so beeindruckt, dass sie kurzerhand entschieden, diesen nicht zu verändern, sondern das Projektbudget für eine Instandsetzung, die Säuberung der Bodenoberfläche sowie die zukünftige Pflege einzusetzen. Der Platz war für die Architekten über die Jahre entsprechend der Bedürfnisse seiner Nutzer so gewachsen, dass sie ihn nie hätten besser gestalten können. Dieses erste Gemeinschaftsprojekt sollte zum Wegweiser für zukünftige Konzepte und Entwürfe werden.«
aus: https://www.awmagazin.de/portraets/lacaton-und-vassal
- „Mit Polyfonie wird Musik bezeichnet, in der selbständige Melodien miteinander verwoben sind. […] Wir sind es gewohnt, Musik mit einer einzigen Perspektive zu hören. Als ich das erste Mal mit polyfoner Musik in Berührung kam, war das eine Höroffenbarung. Ich war gezwungen, verschiedene, simultan ablaufende Melodien voneinander zu unterscheiden und zugleich auf die harmonischen und dissonanten Momente zu achten, die aus ihrem Zusammenspiel hervorgingen. Genau diese Art der Wahrnehmung ist nötig, will man die verschiedenen zeitlichen Rhythmen und Trajektoren eines Gefüges würdigen.“
Anna Lowenhaupt Tsing, a.a.O., S. 41.
- Wo ich zuhause bin
Eine Straße, leicht überschaubar
Die Häuser, dreistöckig
Meist roter, gelegentlich graugelber Backstein
Am oberen Ende vom Bahndamm begrenzt
Unten: ein Bretterzaun
Vorwiegend mit Sportplakaten beklebt
(Jenseits ein totes Fabrikgebäude
Paar spärliche Schrebergärten
Von irgendwo sonst erreichbar) –
Die Kinder, bewandert in tausend Dunkelheiten
Zwischen Hof und Treppenhaus
Lauter kleine Mörder
Unterm Dach, in schrägen, feuchten Zellen
Längst stumm geworden: die alten Leute
Mit dem Sohn, der im Feld blieb und der Tochter in Amerika
Dazwischen: Lebenswege, die sich vorzugsweise
Am Küchentisch mitteilen
Bei Kaffee und Topfkuchen
(In diesem Zusammenhang sind auch ein paar Tränen
Gut und richtig
Man weiß ja: Auch die anderen haben ihr Kreuz) –
Sicher, alles in allem eine
Unordentliche Gegend. Aber dort wohnen Menschen
Und dort bin ich zuhaus
26. März 1970
Dieter Leisegang, Unordentliche Gegend, Frankfurt am Main, 1971, S. 105.
- »Der EZB-Tower steht windschief am Ufer des Mains, ein Wink der Architekten dieses Monstrums mit dem Zaunpfahl in Richtung der globalen Finanzmärkte, deren überschießende Spekulationssucht den Kapitalismus in die windschiefe Lage gebracht hat.«
Elmar Altvater, Beschleunigung und Expansion im Erdzeitalter des Kapitals, in: Dannemann, Pickford, Schiller (Hrsg.), Der aufrechte Gang im windschiefen Kapitalismus, Wiesbaden, 2018, S. 228.