Menetekel
Economy First, Doubts Later
Economy first, doubts later (de)
Seit am 31. Dezember 2019 der Ausbruch einer neuen Lungenentzündung in Wuhan bestätigt wurde, sind rund 2½ Jahre vergangen. Ein Ende der Corona-Pandemie ist nicht absehbar.
Die durch die Pandemie ausgelöste gesellschaftliche Krise wird durch die unmittelbaren Folgen des Einmarsches der Russischen Föderation in die Ukraine am 24. Februar 2022 noch verschärft.
Was für eine Zukunft wird nach diesem Kulturbruch unter Einsatz einer Technik in ihrer perfidesten – sich gegen das Leben richtenden Form – auf europäischen Boden mittel- und langfristig zu erwarten sein?
Festzustehen scheint: wir werden auf unabsehbare Zeit sowohl im Privaten als auch als Gesellschaft unter massiven psychischen, sozialen und wirtschaftlichen Druck stehen.
Vor diesem Hintergrund steht eine weitere, nicht aufschiebbare Aufgabe zur Lösung an: die Umsetzung der Klimaziele.
In dieser Gemengelage stellte sich die Frage nach den Antworten der EU und ihrer Mitgliedsstaaten auf diese Herausforderungen.
Demokratie gilt als die verletzlichste Herrschaftsform. Als Staatskunst bewährt sie sich im Aushandeln und im Ausgleich der unterschiedlichen Interessen. In einer repräsentativen Demokratie kommt den politischen Eliten – den Volksvertretern – dabei eine besondere Verantwortung zu.
Auf der zivilgesellschaftlichen Ebene entspricht der politischen Verantwortung eine sowohl kritische als auch konstruktive und korrektive Haltung gegenüber politischen Vorhaben und Entscheidungen.
Die Zumutungen der Pandemie haben in den letzten zwei Jahren tiefe Gräben gerissen.
Die nächsten Jahre werden aufgrund der Folgen des Krieges – Zerstörung, Tod und Vertreibung – weitere Herausforderungen für die europäischen Demokratien mit sich bringen.
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In ihrer Rede vom 16.9.2020 vor dem Europaparlament »Zur Lage der Union 2020« unter dem Titel »Die Welt von morgen schaffen: eine vitale Union in einer fragilen Welt« 1 stellte die Kommissionspräsidentin Frau von der Leyen den European Green Deal (EGD) vor.
In diesem Kontext wurde das New European Bauhaus (NEB) skizziert und die relevanten zivilgesellschaftlichen Akteure dazu aufgerufen, sich als Partner des NEB zu bewerben.
Rede und Projekt lösten europaweit große Resonanz aus und die Bereitschaft, sich international dieser Bewegung anzuschließen.
Der Deutsche Werkbund Hessen folgte dem Aufruf. Er steht hinter den seinerzeit definierten Zielen einer europäischen Bewegung, die Bezug auf das historische Bauhaus nimmt, und versteht seine Partnerschaft als Gestaltungsauftrag, eine, wie es in der Green-Deal-Rede Frau von der Leyens heißt, bessere Welt von morgen zu schaffen.
Doch dieses von drei Säulen (Sustainability, Aesthetics and Inclusion) getragene Gebäude ist ins Wanken geraten.
Am 12. Juli 2020 trat die Taxonomie-Verordnung mit dem Anwendungsdatum 1. Januar 2021 in Kraft.
Die Taxonomie-Verordnung 2 definiert, ob eine Wirtschaftstätigkeit als ökologisch nachhaltig anzusehen ist. Ziel ist es, private Investitionen in ökologisch nachhaltige Projekte zu lenken.
Am 31.12.2021 (kurz vor Mitternacht) schlug die Europäische Kommission vor, fossiles Gas und Atomkraft in die Taxonomie aufzunehmen.
Seit dem 6.7.2022, und mit der Entscheidung des EU-Parlaments, ist es offiziell: Erdgas und Atomkraft sind nachhaltig.
Dem Zyniker war das schon länger klar. Beide Energieträger werden uns und unsere Nachkommen in nächster und fernster Zukunft begleiten. Was könnte nachhaltiger sein?
Enttäuschung und Empörung sind groß.
Für den Werkbund Hessen als Partner des New European Bauhaus ergibt sich daraus, diese Entscheidung einer kritischen Stellungnahme zu unterziehen.
Zuerst ist festzustellen, dass der European Green Deal (EGD), der vor allem auf die Reduktion von CO2 setzt, um die Erderwärmung zu reduzieren, zu kurz greift.
Natürlich wird hier ein vorrangiges Problem, nämlich der CO2 getriebene Klimawandel, in Angriff genommen.
Andere umweltrelevanten Probleme, so auch im speziellen Fall das Problem der Endlagerung des Atommülls, werden unbefriedigend behandelt.
Auf dieses Problem weist auch das Bundesumweltamt 3 hin. Da heißt es:
»Die Europäische Kommission schlägt vor, Atomkraft in die Taxonomie aufzunehmen. Im Wesentlichen müssen die entsprechenden Anlagen dafür den Euratom-Vertrag erfüllen, und der betreffende Mitgliedsstaat muss einen Plan für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle bis 2050 vorlegen können. Dieser Vorschlag steht nicht im Einklang mit dem in der Taxonomie verankerten Grundsatz des »Do no significant harm« (DNSH), denn die Entsorgung hochradioaktiver Abfälle bleibt ungelöst. Es gibt in der EU kein Endlager, das tatsächlich in Betrieb ist und empirische Belege oder wissenschaftliche Analysen zu den langfristigen Auswirkungen der Entsorgung hochradioaktiver Abfälle liefern könnte.«
Zum zweiten »grünen« Energieträger, dem Erdgas, heißt es in der Erklärung des Bundesumweltamtes u.a.:
»Die Europäische Kommission schlägt vor, Erdgas-betriebene Kraftwerke in die Taxonomie aufzunehmen, wenn sie definierte Grenzwerte nicht überschreiten. Diese Kriterien setzen Anreize für den Bau einer großen Zahl von Gaskraftwerken, anstatt erneuerbare Energien auszubauen und Technologien zur direkten Stromnutzung voranzubringen. Sie verstoßen gegen den Grundsatz der Technologieneutralität, da sie deutlich höhere Emissionen festlegen als das Kriterium von 100 g CO2e/kWh Lebenszyklusemissionen, das in der Taxonomie für andere Energieträger gilt.«
Als Brückentechnologie ist die Atomenergie nach Expertenmeinung ohnehin nicht geeignet.
Planung und Inbetriebnahme würden zu viel Zeit in Anspruch nehmen und somit den unmittelbaren Bedarf nicht decken können.
Unabhängig von allen technischen, ökologischen und regulatorischen Problemen wäre fossiles Gas als Brückentechnologie einsetzbar, wenn die Verfügbarkeit selbst nicht zum Problem geworden wäre.
Viel zu lange wurde die Abhängigkeit vom fossilen Energieträger Erdgas und dem dazugehörigen fragwürdigen Lieferanten gepflegt.
Die Befürchtung, die mit dieser Einstufung verbunden ist, besteht im Wesentlichen darin, dass ein Großteil der Investitionen für die Entwicklung alternativer Energien verloren gehen könnten, sobald die Kapitalanlage in zukünftige Atomkraftwerke und Erdgas-betriebene Kraftwerke – weil »grün« – lukrativ werden.
Das eigentliche Problem allerdings – und damit sind wir wieder bei der Verantwortung der Politik – liegt darin, dass sie ihre Glaubwürdigkeit in großen Teilen der Jugend weiter verspielt und sich neue Risse in der Gesellschaft auftun.
Der European Green Deal gerät unter Verdacht, eine weitere Verkleidung eines wachstumsbesessenen Wirtschaftssystems zu sein, dessen fatale Folgen uns vor Augen stehen.
Immer verzweifelter wird das Aufbegehren vor allem der Jugend gegen den Ausverkauf ihrer Zukunft und anstatt diesen berechtigten Anliegen mit angemessenen Antworten und Maßnahmen zu begegnen, werden Protestaktionen und mit ihnen die jugendlichen Aktivist:innen kriminalisiert.
Wir erleben ein Déjà-vu zur Anti-Atomkraftbewegung. Wer ist hier Täter, wer Opfer?
Krieg und Lieferengpässe scheinen im Nachhinein die Schritte der Kommission zu rechtfertigen. Alternativen zu Kohle, Öl, Gas und Atomkraft wurden nicht zuletzt wegen jahrzehntelang gepflegter Ignoranz immer wieder verhindert.
Dass ausgerechnet ein Grüner Wirtschaftsminister sich um die sanktionsbedingt raren und immer noch erforderlichen fossilen Energieträger bemühen muss, erscheint als Streich der Geschichte.
Umweltschutz darf angesichts von Krieg und Pandemie nicht gegen diese Krisen ausgespielt werden. Alles dies ist gleichzeitig und fordert uns, ob wir wollen oder nicht, zum Handeln und Lassen.
Einschnitte in unseren Lebensstil werden die Folgen sein.
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Dem Werkbund als wirtschafts-kultureller Vereinigung liegen die Zielsetzungen des European Green Deal und des New European Bauhaus nicht fern; sie liegen ihm vielmehr am Herzen.
Das Neue Europäische Bauhaus zielt darauf ab, den Europäischen Green Deal mit unseren Lebensräumen zu verbinden.
Verbesserung der Lebensbedingungen durch Wohlstand ist Werkbund-DNA seit 1907.
Aus dieser Haltung heraus versuchen wir über Stellungnahmen und Veranstaltungen Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse und politische Vorhaben bzw. Entscheidungen zu nehmen.
Diesem Anspruch ist diese kritische Stellungnahme geschuldet.
Ulf Kilian
Deutscher Werkbund Hessen
Economy first, doubts later (en)
About 2 ½ years have passed since a new pneumonia outbreak was confirmed in Wuhan on December 31, 2019. There is no end in sight to the Corona pandemic.
The social crisis triggered by the pandemic will be exacerbated by the immediate consequences of the Russian Federation's invasion of Ukraine on February 24, 2022.
What kind of future can be expected on European soil in the medium and long term after this cultural rupture using a technology in its most perfidious form - directed against life?
One thing seems to be certain: we will be under massive psychological, social and economic pressure for an unforeseeable period of time, both in our private lives and as a society.
Against this background, there is another task that cannot be postponed: the implementation of the climate targets.
In this mixed situation, the question arose as to the responses of the EU and its member states to these challenges.
Democracy is considered the most vulnerable form of government. As a form of statecraft, it proves its worth in negotiating and balancing different interests. In a representative democracy, the political elites—the representatives of the people—have a special responsibility.
At the level of civil society, political responsibility is matched by a critical as well as constructive and corrective attitude toward political plans and decisions.
The impositions of the pandemic have torn deep rifts in the last two years.
The next few years will bring further challenges for European democracies due to the consequences of the war - destruction, death and displacement.
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In her speech of 16.9.2020 to the European Parliament »On the State of the Union 2020« under the title »Creating tomorrow’s world: a vital Union in a fragile world« 1, Commission President Ms. von der Leyen presented the European Green Deal (EGD).
In this context, the New European Bauhaus (NEB) was outlined and relevant civil society actors were invited to apply as partners of the NEB.
The speech and project triggered a great response throughout Europe and a willingness to join this movement internationally.
The Deutscher Werkbund Hessen followed the call. It stands behind the goals defined at the time of a European movement that makes reference to the historic Bauhaus, and understands its partnership as a creative mandate to create, as Ms. von der Leyen's speech puts it, a better world of tomorrow.
But this edifice, supported by three pillars (Sustainability, Aesthetics and Inclusion), has begun to falter.
On July 12, 2020, the Taxonomy Regulation entered into force with an application date of January 1, 2021.
The Taxonomy Regulation 2 defines whether an economic activity is considered environmentally sustainable. The goal is to direct private investments into environmentally sustainable projects.
On 12/31/2021 (just before midnight), the European Commission proposed to include fossil gas and nuclear power in the taxonomy.
Since 6/7/2022, and with the decision of the EU Parliament, it is official: natural gas and nuclear power are sustainable.
To the cynic, this has been clear for some time. Both energy sources will accompany us and our descendants in the near and distant future. What could be more sustainable?
Disappointment and indignation are great.
For the Werkbund Hessen as a partner of the New European Bauhaus, it follows that this decision must be subjected to a critical statement.
The first thing to note is that the European Green Deal (EGD), which focuses primarily on reducing CO2 in order to reduce global warming, falls short.
Of course, it addresses a priority problem, namely CO2-driven climate change.
Other environmentally relevant problems, including in this particular case the problem of the final disposal of nuclear waste, are being dealt with unsatisfactorily.
This problem is also pointed out by the Federal Environmental Agency 3. It states:
»The European Commission proposes to include nuclear power in the taxonomy. Essentially, the relevant plants must comply with the Euratom Treaty in order to do so, and the member state in question must be able to present a plan for a final repository for high-level radioactive waste by 2050. This proposal is not in line with the »do no significant harm« (DNSH) principle enshrined in the taxonomy, as the management of high-level waste remains unresolved. There is no repository actually in operation in the EU that could provide empirical evidence or scientific analysis on the long-term impacts of high-level radioactive waste management.«
Regarding the second »green« energy source, natural gas, the statement from the Federal Environmental Agency reads, among other things:
»The European Commission proposes to include natural gas-fueled power plants in the taxonomy if they do not exceed defined limits. These criteria incentivize the construction of a large number of gas-fired power plants instead of expanding renewables and advancing technologies for direct electricity use. They violate the principle of technology neutrality because they set significantly higher emissions than the 100 g CO2e/kWh lifecycle emissions criterion that applies to other energy sources in the taxonomy.«
According to experts, nuclear energy is not suitable as a bridging technology anyway.
Planning and commissioning would take too much time and thus would not be able to meet immediate demand.
Regardless of all the technical, environmental and regulatory problems, fossil gas could be used as a bridging technology if availability itself had not become a problem.
For far too long, dependence on natural gas as a fossil fuel and its associated questionable supplier has been nurtured.
The fear associated with this classification is essentially that much of the investment in alternative energy development could be lost once capital investment in future nuclear and natural gas-fired power plants becomes lucrative—because »green«.
The real problem, however—and this brings us back to the responsibility of politics—is that it continues to gamble away its credibility among large sections of the youth and new cracks are opening up in society.
The European Green Deal is coming under suspicion of being yet another disguise for a growth-obsessed economic system, the fatal consequences of which are staring us in the face.
The rebellion, especially of the youth, against the sellout of their future becomes more and more desperate and instead of meeting these justified concerns with adequate answers and measures, protest actions and with them the youth activists are criminalized.
We are experiencing déjà vu with the anti-nuclear movement. Who is the perpetrator, who is the victim?
War and supply bottlenecks seem to justify the steps of the commission in retrospect. Alternatives to coal, oil, gas and nuclear power have been repeatedly prevented, not least because of decades of cultivated ignorance.
The fact that a Green Minister of Economics, has to make an effort to find fossil fuels, which are scarce and still needed due to sanctions, seems like a prank of history.
Environmental protection must not be played off against these crises in the face of war and pandemic. All of this is simultaneous and, whether we like it or not, demands that we act and not act.
Cuts in our lifestyle will be the consequences.
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The Werkbund as an economic-cultural association is not distant from the objectives of the European Green Deal and the New European Bauhaus; on the contrary, they are close to its heart.
The New European Bauhaus aims to connect the European Green Deal with our living spaces.
Improvement of living conditions through prosperity is Werkbund DNA since 1907.
Based on this attitude, we try to influence social processes and political plans or decisions through statements and events.
This critical statement is due to this claim.
Ulf Kilian
German Werkbund Hesse
Quellen / Sources
- https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/SPEECH_20_1655
- Verordnung (EU) 2020/852 des Europäischen Parlaments und des Rates vom Juni 2020 über die Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen und zur Änderung der Verordnung (EU) 2019/2088,
- https://www.umweltbundesamt.de/themen/eu-taxonomie-atomkraft-erdgas-sind-nicht-nachhaltig